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GESELLSCHAFTSANALYSE:
​Erfogsmodell Schweiz


Im CIA-World Factbook, einem Online-Nachschlagewerk über 270 Staaten, wird die Schweiz wie folgt beschrieben: "Die Schweiz ist ein friedliches, wohlhabendes Land, eine stabile, moderne Marktwirtschaft mit tiefer Arbeitslosigkeit, hoch qualifizierten Arbeitskräften und einem Pro-Kopf Einkommen, welches höher ist als dasjenige der grossen westlichen europäischen Wirtschaften".

Eine wahrhaftig lobende Darstellung: in der Schweiz lässt sich's gut leben. Es ist das einzige Land mit echter Basisdemokratie, eine Willensnation mit vier Kulturen, die friedlich zusammen leben. Und es ist ein schönes Land, mit vielen Bergen, Seen und blühenden Landschaften. Es ist führend in vielen Bereichen: in der gesundheitlichen Versorgung, in Bildung und Forschung, in der Nobelpreisdichte, in den Infrastrukturen, im Recycling von Aluminium, im Kauf von Fair-trade Produkten, im Biolandbau, in der Millionärsdichte. Es ist das Land der Banken, der Versicherungen, der Chemie, der Uhren und der Schokolade. Die Einwohner dieses Landes sind arbeitsam, verschwiegen, ordnungsliebend, anständig, sparsam und sicherheitsbedürftig. Wenn man seit vielen Jahren in diesem Land lebt, kommt einem dies alles so selbstverständlich vor. Erweitert man den Horizont aber ein wenig, stellt man fest, dass ein solches Leben für viele Menschen lediglich eine Traumvorstellung ist. Allein die Tatsache, eine Arbeit zu haben, Geld zu verdienen, und seine Familie ernähren zu können, bleibt für viele Erdbewohner ein unerreichbares Ziel. Wenn dieses aber erreicht ist, die Grundbedürfnisse befriedigt sind, treten bald weitere Wünsche auf: ein Auto, ein Fernseher, ein Handy, chique Kleider, teurer Ausgang. Aber auch dies reicht bald nicht mehr aus: Es muss ein Eigenheim her, ein Zweitauto, bessere Kleider, schönere Ferien. Und vielleicht dann bald noch ein Ferienhaus, ein grösseres Auto - und so weiter. Der Wohlstand, der Konsum, die magischen Konsumgüter üben - durch die Werbung geschürt - eine unwiderstehliche Faszination auf die Menschen von heute aus - und dies in der ganzen Welt. Nur sehr wenige Gesellschaften, kulturelle Einheiten oder Individuen vermögen sich dieser Attraktion zu entziehen. Und falls sie es doch tun, wird die übrige Welt dafür sorgen, dass dies nicht allzu lange andauert. Die Toleranz gegenüber dem Nicht-Mitmachen ist in einer Konsumgesellschaft ausserordentlich gering.

Selbstverständlich gibt es in diesem schönen Land auch Schattenseiten. Fremde behaupten oft, es habe in diesem Land keinen Platz für Kinder. Die Suizidrate ist in der Schweiz sehr hoch. Jedes zweite Schulkind beansprucht irgendeine Form von therapeutischer Massnahme, jede zweite Heirat wird geschieden. Viele Arbeitende klagen über zunehmenden Stress, Verschlechterung des Arbeitsklimas, Angst vor dem Stellenverlust. Die Schere zwischen Arm und Reich nimmt zu, das Land entwickelt sich zur Zweidrittelgesellschaft, wovon ein Drittel in Armut lebt. Sozial Abgestiegene ziehen sich zurück, vereinsamen, schämen sich vielleicht, werden psychisch auffällig, ertrinken ihren Kummer im Alkohol. Es erstaunt deshalb nicht, welchen Stellenwert die Arbeit in unserer Gesellschaft einnimmt. Obwohl bei einem gewissen Teil der Arbeitenden, den "Working Poors", das Einkommen nicht zu einem anständigen Leben reicht, ist es wohl so, dass Arbeit einerseits Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bedeutet und andererseits das Mittel ist, sich all die schönen Dinge zu leisten, die uns in den Magazinen, Warenhäusern und Boutiquen angeboten werden. Auch wenn man vielleicht selber ein Stück weit darauf verzichten kann und will, werden die Kinder dafür sorgen, dass das neueste Handy oder das letzte Computerspiel ins traute Heim einkehren. Arbeit ist auch das, was einen Status verschafft, ein Ansehen, eine Normalität gegenüber anderen Menschen. Weil eben Arbeit so überaus wichtig ist, sind wir bereit, vieles dafür zu opfern: wir sind bereit, falls nötig länger zu arbeiten, unsere Arbeitsrechte einzuschränken, den Umweltschutz zu lockern, ethische Bedenken beiseite zu schieben und dubiose Politiker zu wählen, die uns Arbeitsplätze versprechen.

Öffnung der Finanzmärkte, Abbau von Handelshemmnissen (Globalisierung), technologischer Fortschritt (IT-Branche), Veränderungen der Produktionsformen (lean production) haben in den letzten Jahrzehnten weltweit tiefgreifende Veränderungen im Wirtschaftsgeschehen verursacht, wobei es einige Gewinner und viele Verlierer gab. Die Schweiz gehört eindeutig zu den Gewinnern. In der Wirtschaft gibt es keine Ausreden: der Bessere, der Schnellere, der Pfiffigere gewinnt. Dies gilt für Unternehmen wie auch für einzelne Länder. Nur - heute besser sein, genügt nicht: Man muss sich jetzt schon auf Morgen und Übermorgen ausrichten. Sich auf Lorbeeren ausruhen, ist im internationalen Wettbewerb tödlich. So ist man immer auf Trab, immer auf der Hut, immer unter Druck. Dies wirkt anregend, stimulierend, spannend, aber zum Teil auch bedrohlich, denn niemand weiss, wie die unmittelbare Zukunft aussehen wird. Menschen haben ein Bedürfnis nach Sicherheit, nach Stabilität, nach Voraussehbarkeit. Von ihnen wird aber verlangt, "flexibel" zu sein und sich den Veränderungen anzupassen. Sind wir noch frei? Haben wir noch die Möglichkeit, als Nation, als Gruppe, als Individuum, unser Leben selber zu bestimmen? Wo stehen wir heute?