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Die Verwirklichung des Absoluten


Die westliche Religion, also das Christentum, unterscheidet sich von den östlichen Religionen in wesentlichen Punkten: Da es keine Wiedergeburt gibt, entscheidet die Lebensführung über die Frage, ob man nach dem Tod in den Himmel oder in die Hölle kommt. Dies geht mit einer strengen und zum Teil menschenverachtenden Moral einher, sowie einem Hang zur Unterdrückung und zur Machtausübung. Da die Erlösung nur durch den Messias erfolgen kann, birgt das Christentum den Charakter des Ethnozentrismus, einer Überheblichkeit gegenüber anderen Glaubensformen. Das Konzept ist in sich stimmig und kann problemlos als Rahmen der Orientierung und der Hingabe herhalten. Allerdings handelt es sich um eine äusserst primitive Auffassung des menschlichen Daseins: Ein Leben als Eintagsfliege! Der Mensch ist was er ist, wenn er glaubt und sich moralisch verhält, kann er gerettet werden, sonst endet er in ewiger Verdammnis. Es ist schon erstaunlich festzustellen, welche Massstäbe wir zum Beispiel bei der technischen Entwicklung von Mobiltelefonen setzten und gleichzeitig mit was für anspruchslosen Erklärungsmustern wir uns mit Grundsatzfragen im Zusammenhang mit Leben und Tod zufrieden geben. In Sachen Spiritualität ist der Westen weitgehend ignorant, befindet sich bestenfalls im Entwicklungsstadium des Kindergartens. Wie er der Lichtgestalt Jesus Christus begegnet ist, bedarf wohl keiner weiteren Ausführungen. Man mag argumentieren, dass die Kreuzigung Jesu in einem dunklen Zeitabschnitt der Vergangenheit erfolgt ist. Aber ist es denn heute anders? Ist es nicht so, dass Spiritualität tagtäglich gekreuzigt wird? Jesus hat die Zinseintreibung als Wucher gebrandmarkt. Gehören die Analyse der Börsenkotierungen, das Streben nach Zinsertrag und die Vermögensbildung nicht zu den Hauptanliegen des modernen Menschen?

Die westlichen Religionen entbehren jeglichen Bezug zur gelebten Spiritualität: Die Vorstellung, dass das menschliche Bewusstsein eine tief greifende Metamorphose erfahren kann, gibt es hier nicht. Dies ist hingegen die Kernaussage des Vedanta: Der Yogaweg führt zu einer kompletten Transformation des menschlichen Wesens, bis hin zum Ziel der Verwirklichung des Absoluten. Die Konzepte des Karma und der Zyklen von Wiedergeburten sind eine äusserst einleuchtende Vorstellung, die viele Phänomene des menschlichen Daseins in nachvollziehbarer Weise zu erklären vermag, was beim christlichen Glauben nicht der Fall ist. Wie sonst könnten zum Beispiel die krassen Unterschiede verstanden werden, mit denen Menschen in die Welt geboren werden? Wie erklären, dass es Menschen gibt, die in Armut, als hässliches Entlein oder als Krüppel zur Welt kommen, während andere mit den besten Startchancen gesegnet sind? Oder dass es Verbrecher gibt, die nie gefasst werden und wahre Glückspilze sind, während tugendhafte Menschen einen Schicksalsschlag nach dem anderen erleiden?

Wie bereits im Abschnitt „Was ist Yoga?“ ausgeführt, wird gemeinhin der Weise Patanjali als der Begründer des Yoga betrachtet. Das Wort selber kommt aber in zahlreichen anderen Schriften der indischen Philosophie vor. Handkehrum befassen sich ebenfalls weitere Schriften – auch ausserhalb des Hinduismus - mit der Thematik der Erlösung. Ich nehme mir die Freiheit, auch auf diese Überlieferungen zurückzugreifen, insofern sie dem Ziel der Wissensvermittlung dienen. Der Yogaweg kann innerhalb eines religiösen Rahmens stattfinden – muss aber nicht. Je nach individueller Veranlagung kann dieser in einem Kloster, einem Ashram, als Ehefrau, Ehemann oder als Mönch beschritten werden. All dies spielt keine grosse Rolle. Ich werde mich nicht weiter mit den verschiedenen Yogawegen befassen, mit all den Stufen und Zwischenstufen, mit den Rückführungen in frühere Leben, mit dem Erwachen der Kundalini, mit der Erlangung von Siddhis oder übernatürlicher Kräfte. All dies wird nicht Gegenstand der nachfolgenden Erläuterungen sein. Auch werde ich nicht detailliert auf die Praxis des Yoga-Weges eingehen. Mein Bestreben wird sein, dem Leser das Endstadium des Yogas und dessen Konsequenzen für das Verständnis des menschlichen Daseins näher zu bringen.

"Jetzt, in der menschlichen Lebensform, ist die Zeit gekommen, das Absolute zu erforschen" (athato brahma jijnasa) lehren uns die Veden. Somit wird das Ziel des menschlichen Daseins postuliert. Diese Behauptung ist von erheblicher Tragweite, denn sie bekräftigt, dass (im Unterschied zu niedrigeren Lebensformen) das Ziel des menschlichen Lebens ein spirituelles ist. Dies ist gleichzeitig eine Definition von dem, was Spiritualität bedeutet: Die Ausrichtung des eigenen Lebens auf die Verwirklichung des Absoluten. Diese Aussage der Veden ist auch für die Beurteilung gesellschaftlicher Organisationen relevant, wie ich versuchen werde, es im Kapitel „Gesellschaftsanalyse“ aufzuzeigen.

Wie bereits angedeutet, wird das Endziel des Yoga in Sanskrit mit den Wörtern Moksha, Kaivalya, Turiya oder Nirvana bezeichnet. Die deutschen Übersetzungen lauten auf „Erleuchtung“ oder „Erlösung“, die englische auf „liberation“ oder „Befreiung“. Obwohl diese Begriffe nicht ganz ohne Bezug zu Moksha sind, bevorzuge ich den Begriff „Erwachen“, denn dieser scheint mir Moksha am Nächsten zu kommen. Nirvana heisst, wörtlich übersetzt: „Es ist beendet“, was auf den Endstadium eines Vorganges hinweist. Turiya wird als vierter Zustand des Bewusstseins bezeichnet, nebst dem Tiefschlaf, dem Traum- und dem Wachzustand und als „Erwachen“ aus dem uns vertrauten Wachzustand verstanden, als Neugeburt in die vierte Dimension der Existenz. Es ist ein Transmutationsprozess, der plötzlich auftritt, es ist eine Metamorphose, vielleicht vergleichbar mit der Umwandlung einer Raupe in einem Schmetterling.

Das Absolute grenzt sich ab vom Relativen, obwohl es sich strikte genommen nicht um eine Abgrenzung handeln kann, da das Absolute alles umfasst. Yoga ist somit ein Weg vom Relativen zum Absoluten. Relativ ist eigentlich all das, was wir wahrnehmen: Uns selber, die Welt, Namen, Formen, Phänomene, was in Sanskrit als Samsara bezeichnet wird. Die eigentliche Schwierigkeit, irgendetwas über das Absolute zu sagen oder zu schreiben liegt darin, dass sämtliche Formen der Kognition über die wir verfügen (Intellekt, Intuition, Sinne, Gefühle…) Teil des Relativen sind. Es ist in diesem Sinne also gar nicht möglich, das Absolute zu beschreiben. Ebenso unmöglich ist die Beantwortung der Frage, ob das Absolute Gott ist, denn es müsste ebenfalls definiert werden, was wir unter Gott verstehen. Diese Begriffe sind transzendent. Ein asiatisches Sprichwort besagt: „Ein Finger zeigt zum Mond. Schade für den, der den Finger betrachtet“. Um dem Begriff des Absoluten näher zu kommen, werden wir das Thema unter einer ganzen Reihe von Gesichtspunkten angehen. Wir werden Analogien zu Hilfe nehmen, die symbolische Sprache der Mythen benutzen und Erlebnisberichte vortragen. Es ist aber zu verstehen, dass dies nur Fingerzeige sind, die auf eine andere Realität hinweisen. Es sind Bilder und Geschichten, die uns inspirieren können, es ist eine Anregung zur Meditation. Turiya ist in der Tat ein Erwachen. Es treten fantastische Erkenntnisse zutage, die hinter dem Faktum des Lebens stehen. Es ist kein Entrinnen in ätherische Sphären, man steht mittendrin im Leben, mit absoluter Intensität. Es ist kein Verlust von irgendetwas sondern die Inbesitznahme von Allem. Es ist die unmittelbare Erfahrung der Essenz aller Dinge. Wir werden Turiya unter verschiedenen Gesichtspunkten annähern..