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Selbstkenntnis​


Wer bin ich? Für Ramana Maharshi war dies die zentrale Frage. Oftmals beantwortete er Fragen von Suchenden mit der Gegenfrage: "Wer ist es, der diese Frage stellt?" Für ihn war der Ich-Gedanke der Ursprung allen Denkens, die eigentliche Ursache der Schöpfung und Anfang des Teilungsprozesses, der zur Trennung von Innen- und Aussenwelt und allen darauf basierenden Konflikt- und Spannungsfeldern führt.
Das Ich bezieht sich in erster Linie auf eine Individualität, ein "body-mind-complex", ein Körper-Persönlichkeitskomplex. Körper und Mind (sprich "maind" - auf Deutsch Denkorgan)  stehen untereinander in Beziehung und beeinflussen sich gegenseitig. Eigentlich wissen wir recht gut wer wir sind: wir haben ein gewisses körperliches Erscheinungsbild, bestimmte Charaktereigenschaften, eine spezielle Art, auf Ereignisse zu reagieren. Unsere Personalien sind in unserer Identitätskarte festgehalten. Mit dem Ich grenzen wir uns von der Aussenwelt ab und treten mit ihr in Beziehung. Wir haben einen Partner, eine Partnerin, Kinder, Verwandte, Bekannte. Wir wohnen in einer Stadt, auf dem Land oder in den Bergen, sind Staatsbürger einer bestimmten Nation. Wir üben einen Beruf aus, sind im Haushalt tätig und gehen diversen Hobbies nach.

Viele Menschen begnügen sich, ein relativ unbeschwertes Leben zu führen. Ihre Hauptziele sind Geld, Liebe, Erfolg, Konsum und Vergnügen. Die Idee, sich mit der eigenen Person zu beschäftigen, ist ihnen fremd, wird allenfalls als Egoismus verpönt. Sie sind nicht in der Lage, ihr eigenes Dasein zu reflektieren. Aus der Sicht der Yogapsychologie handelt es sich um einen derartigen Zustand der Verdunkelung (Avidya), dass man ihn schon fast als einen gewissen Glückszustand bezeichnen kann. Für eine Konsumgesellschaft wie wir sie heute kennen sind es die idealen Marktteilnehmer. Der Psychoanalytiker Erich Fromm beschreibt diese Orientierung sogar als "Marketing-Typ": Personen, die darauf aus sind, möglichst viel zu kriegen und möglichst wenig zu geben. Bei harten Schicksalsschlägen sind diese Menschen rasch überfordert. Anstatt vom Leben zu lernen, fühlen sie sich ungerecht behandelt und nehmen eine Opferrolle ein. Die Ursache von Lebensschwierigkeiten wird nicht bei sich selbst geortet, sondern auf die Aussenwelt projiziert. Dieser Menschentyp ist kaum in der Lage, Probleme im Zusammenhang mit der Kindererziehung oder der Partnerschaft anzugehen.
 
Der erste Schritt auf dem Yogaweg besteht in der Erkenntnis, dass man überhaupt ein Bewusstsein hat, und dass man über die eigene Person reflektieren kann: Wie funktioniere ich im Alltag, welche ist meine körperliche Verfassung, welcher ist mein Gemütszustand, was ist meine Gedankenwelt, wie wirke ich auf andere Menschen, wie wirken andere Menschen auf mich? Bei genauerer Betrachtungsweise wird man vielleicht feststellen, dass eine latente Unzufriedenheit vorliegt, im Beruf, in der Partnerschaft, oder dass Ängste und Sorgen uns plagen. Wie Psychoanalytiker herausgefunden haben, sind Schwierigkeiten der Gegenwart oftmals auf Erlebtes in der Vergangenheit zurückzuführen. Parallel zum Wachstum des Körpers erfolgt ein emotionales Wachstum, vom Zustand des Säuglings, der ganz auf die eigenen Bedürfnisse fixiert ist, hin zu einer progressiven Erkenntnis und Berücksichtigung der Bedürfnisse Anderer. Die hohe Kunst der Erziehung ist, diesen Prozess behutsam zu fördern. Gelingt dies nicht, kann der Prozess ins Stocken geraten. Der Körper wächst zwar weiter, emotional bleibt der Erwachsene jedoch ein Kind. Aus dem ersten Lebensabschnitt sammeln sich in der Psyche nicht verheilte Verletzungen, Traumata, und Frustrationen an, die im Erwachsenenleben weiterhin aktiv sind. Dies kann im Laufe der Zeit zur Ausbildung von dem, was Psychologen ein "falsches Selbst" nennen: Eine Entfremdung des eigenen Ichs. Diese Entfremdung findet ihr Spiegelbild in der Aussenwelt: aktuelle Ereignisse und Personen werden durch unbewusste Filter der Vergangeneit wahrgenommen. Diese Filter manifestieren sich durch die Aktivität des "Minds", welches fortwährend eine komplizierte Gedankenwelt produziert. Wer versucht hat, in der Meditation die Gedankenproduktion auszuschalten weiss, wie schwierig dieses Unterfangen ist.
 
Während das Kind-Ich in der Entwicklung gehemmt wurde, nehmen die Verpflichtungen im Laufe der Jahre stets zu. Obwohl das Intellekt durch emotionale Störungen ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wird, kann es sich - wie der Körper - relativ autonom weiterentwickeln. Dies erklärt warum Jugendliche unbeschwert  eine Schulkarriere - bis hin zu einem akademischen Abschluss - durchlaufen können, dann aber beim Eintritt ins Erwerbsleben mit grössten Schwierigkeiten konfrontiert werden. Um mit den Anforderungen des Erwachsenenalters zurecht zu kommen und die damit verbundenen Ängste zu kontrollieren, baut die Psyche diverse "Abwehrmechanismen" auf. Eine Folge davon ist, dass das Leben mehr "gedacht" als "gelebt" wird. Diese mentalen Mechanismen haben die Eigenschaft, viel Energie zu beanspruchen, was mit der Zeit zu Müdigkeit, Erschöpfung und Depressionen führen kann. Die Unbeschwertheit, Spontaneität und Kreativität des Kindes gehen verloren. Anstatt im "hier und jetzt" zu leben, ist man Gefangener seiner Vergangenheit. Auf dem Yogaweg wird das Mind von diesen Impressionen aus der Vergangenheit (Samskaras) gründlich gereinigt. Dies kann sich als äusserst langwieriger, mühsamer und leidvoller Prozess gestalten. Es geht wirklich darum, sich von einem ganzen mentalen Überbau zu befreien, Schritt für Schritt loszulassen, und die ursprüngliche Unbeschwertheit wieder zu erlangen. Der Yogaprozess kann in diesem Sinne als ein Vorgang verstanden werden, der das emotionale Wachstum nachholt und weiterführt, vom "nur Ich" zum "Ich und die Anderen" über "die Anderen und Ich" bis zum "nur die Anderen". Man kann sich fragen, ob einer derartiger Prozess in der heutigen Zeit überhaupt noch möglich ist. Die Antwort ist ja, es ist eine Sache des Wollens.