
Shri Anandamayi Ma (1896-1982) lebte in Indien als eine der wenigen Vollendeten, die bereits im höchsten Zustand grenzenlosen Bewusstseins auf die Erde geboren wurden. Völlig losgelöst von dem, was sie umgab und gleichzeitig vollkommen eins mit ihm, gilt sie als Verkörperung höchster spiritueller Freiheit und Glückseligkeit. Anandamayi Ma bedeutet „von Glückseligkeit durchdrungene Mutter“, ein Name, den man Ihr schon als junge Frau aufgrund Ihrer stets strahlenden Persönlichkeit und der unwiderstehlichen Anziehungskraft Ihres Wesens gab. Ma war sich von Anfang an dessen bewusst, was Sie schon immer gewesen war und künftig immer sein würde und dieses Bewusstsein verließ Sie niemals auch nur einen Augenblick lang. Es war bereits in Fülle vorhanden, und es bedurfte keiner Anstrengung von Ihrer Seite nach einer Gnade nach oben, um sie zu größerer Vollendung zu führen.
„Die Freude, die Anandamayi Ma lebt, ist nicht jene, die wir aus dem weltlichen Leben kennen, wo Vergnügen und Schmerz, Hoffnung, Trauer und Enttäuschung ständig einander abwechseln, noch ist sie die egozentrische Ruhe stoischer Starrheit, die eine Mauer von Gleichgültigkeit um sich errichtet. Von Ma geht vielmehr eine überfließende, unbändige Freude aus, die in Ihrer Fröhlichkeit einen Ausdruck findet und die keine Hindernisse kennt, weil sie tief im Absoluten, jenseits der Dualität von Gut und Böse, Ich und Nicht-Ich, angenehm und unangenehm wurzelt und weil Liebe und Weisheit ihr unerschütterliches Fundament bilden.“ (Jean Herbert)
Kindheit und Jugend
Anandamayi Ma wurde als zweite Tochter einer armen, aber sehr religiösen Brahmanenfamilie in Ostbengalen, dem heutigen Bangladesh, geboren. Bereits als Kind versank Sie beim Singen und Hören religiöser Lieder in einen entrückten Bewusstseinszustand, der später für Stunden oder Tage andauern konnte. Wie selbstverständlich unterhielt Sie sich mit Bäumen, Tieren und unsichtbaren Wesen. Ihre sanfte und beständig fröhliche Natur, Ihre anmutigen und würdevollen Bewegungen und das immer gegenwärtige, unnachahmliche Lächeln auf Ihrem Gesicht berührte alle, die in Kontakt mit Ihr kamen.
Im Alter von 18 – 20 Jahren zeigten sich immer intensiver Merkmale der Gottesverwirklichung an Ihr. Wie es auch von Shri Chaitanya Mahaprabhu bekannt ist, befand Sie sich während des Kirtan (Mantra-Singen) oft in entrückten, glückseligen Bhavas, Zuständen spiritueller Ekstase, in denen Sie sich in unglaublicher Anmut und Geschwindigkeit zum Klang der Mantren bewegte oder wie ein mühelos schwebendes Blatt über den Boden rollte. Auf Ihrem Gesicht glühte ein Licht, und Ihre Augen waren unverwandt nach oben gerichtet. Dann wurde der Körper von selbst wieder ruhig und Ma saß vollkommen still, Ihr Gesicht leuchtete und Ihre ganze Umgebung war von einem Glanz erfüllt. Sie blieb oft tagelang in Samadhi-Bhava (überbewusster Zustand), ohne auf äußere Ansprache oder Bewegung zu reagieren und ohne dass irgendein Puls registriert werden konnte. Die Unterschiede zwischen Ihrem ‚normalen’ Zustand und dem Samadhi waren nur graduell; selbst bei der normalen Hausarbeit schien Sie von ekstatische Freude durchdrungen.
Sadhana-Lila
Von 1918 – 1924 ereignete sich das sogenannte „Spiel spiritueller Übungen“ (Sadhana-Lila), wie Ma es selbst bezeichnete: Sie hatte das Kheyal (überbewusster Impuls), das Verhalten eines spirituellen Suchers (Sadhaka) anzunehmen, obwohl es für Sie persönlich zu keiner Zeit etwas zu erreichen gab. Ganze Nächte lang und später auch am Tag entströmten Mantren Ihren Lippen und Yoga-Stellungen (Asanas), Mudras (energielenkende Hand- und Körperstellungen) und Pranayama (yogische Atemtechniken) manifestierten sich mühelos durch Ihren Körper. Niemand hatte Sie ausgebildet oder entsprechend instruiert. Sie hatte nicht aus Büchern studiert und keine Vorträge gehört.
„Um einen bestimmten Grad der Erleuchtung auf einem Weg des Sadhana zu erreichen, muss ein Mensch gewöhnlich wieder und wieder geboren werden. Aber für diesen Körper war es nur eine Angelegenheit von Sekunden. Darüber hinaus waren die verschiedenen Phasen von Sadhana, die ihr diesen Körper üben saht, nicht für diesen Körper bestimmt, sondern für Euch alle. Euer starkes Verlangen danach, diesen Körper im Zustand von Samadhi zu sehen, ist der Grund, warum sich diese Symptome manchmal zeigen.“
Gleichzeitig bemerkte Ma, Sie habe noch nicht einmal den tausendsten Teil dessen enthüllt, was bei diesem Spiel spiritueller Übungen tatsächlich geschehen war.
Im August-Vollmond 1922 ereignete sich eine Art Selbstinitiation: Sie sah sich ein mystisches Diagramm (Yantra) auf dem Boden zeichnen und ein Bija-Mantra offenbarte sich aus Ihrem Innern. So etwas wie die feinstoffliche Gestalt eines Gurus manifestierte sich aus Ihrem Körper und ging später wieder in ihn ein. Ihr Körper wurde vom Boden emporgehoben. Die normalen Funktionen Ihres Körpers waren stunden- und tagelang aufgehoben. Ihre Tage gliederten sich nicht mehr in Morgen, Abend und Nacht – es war eine einzige, anhaltende Zeit unbeschreiblicher Glückseligkeit. In Ihrem Mund fühlte Sie eine honigähnliche Substanz, die von innen kam und manchmal so anschwoll, dass Sie sie hinunterschlucken musste.
Nach der Selbst-Initiation fand etwa fünf ein halb Monate lang ein umfassendes, intensives Sadhana statt, in dessen Verlauf Ma unzählige Sadhana-Wege, auch nicht-hinduistische, durchlebte. Es fand seinen Höhepunkt in der Erfahrung, die die Taittiriya-Upanisha (II,I) so beschreibt: „Wer ES erkennt, hat ALLES erlangt.“
Bisweilen schien Ihr Körper ganz im Einklang mit den Vorgängen in Ihrer Umgebung zu sein. Die kleinen Wellen, die ein Boot hinter sich lässt, zogen Sie an, so dass Ihr Körper zum Wasser hinzufließen schien. Wann immer ein Impuls durch Ihr Bewusstsein ging, manifestierte sich sofort ein entsprechender Ausdruck durch Ihren ganzen Körper. Wenn ein plötzlicher Sturm aufkam, glich Ihr Körper einem vom Wind aufgeblähten Tuch. Stürme versetzten Sie in Hochstimmung. Manchmal mischte sich Ihr unbeschreibliches Lachen (Attahasa) mit den Geräuschen der Elemente zu einer majestätischen Symphonie der Natur.
Im Alter von 26 Jahren begann Sie ein dreijähriges Schweigen. welches auch Gebärden einschloss und nur dadurch unterbrochen wurde, dass Sie von Zeit zu Zeit mit einem Finger einen imaginären Kreis um sich zog, einige Mantren sprach und dann wieder verstummte. Viele Monate lang nahm Sie täglich nur eine Fingerspitze Essen zu sich, fünf Monate lang nur drei Reiskörner täglich, dann viele Jahre nur jeden zweiten Tag Essen. Im Jahr 1924 hörte Sie dann ganz auf, sich selbst zu essen zu geben. Ihre Hand hielt häufig auf halbem Wege inne oder die Nahrung glitt Ihr einfach durch die Finger. Um zu verhindern, dass Sie ihren Körper verließ, gab man Ihr die Nahrung, wenn es auch für Sie selbst keinen Unterschied zu machen schien, ob Sie einige Wochen lang nur drei Reiskörner täglich oder normale Mahlzeiten zu sich nahm.
Zu diesem Zeitpunkt waren schon viele Menschen auf Ihre außergewöhnliche Wesenheit aufmerksam geworden, kamen regelmäßig zu Ihr oder lebten in Ihrer Nähe. 1929 errichteten Devotees den ersten Ashram für Sie.
Alles, was Ma sagte und tat, kam von innen wie der Klang einer angeschlagenen Glocke. Diesen Vergleich benutzte Ma zuweilen, um zu veranschaulichen, wie Sie auf Menschen einging, die bei Ihr spirituelle Führung suchten. Ma sagte: „Dieser Körper ist wie ein Instrument, ihr hört die Melodie, die ihr darauf spielt.“
Außergewöhnliche, „übernatürliche“ Begebenheiten mit Ananandamayi Ma fanden in einer Atmosphäre von völliger Normalität statt. Ungeachtet der Veränderungen, die der Betrachter von außen wahrnahm, existierte jedoch in Ma’s ununterbrochenem Seinszustand keinerlei Bewegung oder Phase, die durch eine ‚höhere’ oder ‚tiefere’ abgelöst wurde.
Sie selbst sagte:
„Ich bin das, was ich von Ewigkeit her war und immer sein werde, ich bin all das, was du dir vorstellst, denkst oder sagst. Doch steht ganz fest, dass dieser Körper nicht entstanden ist, um die Früchte vergangenen Karmas zu ernten. Warum fasst ihr es nicht so auf, dass dieser Körper die materielle Verkörperung all eures Sehnens und all eurer Vorstellungen ist? Ihr habt ihn alle gewünscht und nun habt ihr ihn.“
„Für diesen Körper gibt es kein Kommen oder Gehen. Dieser Körper kommt weder ‚irgendwoher’, noch geht er ‚irgendwohin’. Er isst keine Nahrung von ’jemandem’, noch trägt er Kleider, die ‚jemand’ gegeben hat. Das ganze Universum ist das Zuhause dieses Körpers. Ihr alle seid meine Väter, Mütter und Freunde. Es gibt nur ein umfassendes Selbst (Atma) – Einen ohne einen Zweiten. ‚Wohin’ kann dieser Körper gehen? Er hat keinen Platz, sich zu bewegen, ja nicht einmal sich umzudrehen. Selbst wenn man ihn verdrängt, ist er immer noch da.“
Der indischen Tradition entsprechend war Anandamayi Ma im Alter von zwölf Jahren verheiratet worden. Von Ihrem 18. Lebensjahr an lebte Sie zusammen mit Bholanath, der Ihr treu zur Seite stand, obgleich es offensichtlich war, dass eheliche Beziehungen von Anfang an ausgeschlossen waren. Ma tat, solange Bholanath lebte, nie etwas gegen seinen Willen; Bolanath hingegen, der eine kraftvolle Persönlichkeit besaß, lernte bald, wie wichtig es war, Ma’s Kheyal zu respektieren und er stellte sich ihm selten oder zumindest nie sehr lange entgegen. Nachdem Ma bereits fünf Monate vorher das genaue Datum von Bolonath’s Initiation vorausgesagt hatte, fand diese 1922 statt, und er wurde formell Ihr Schüler. Er blieb Ihr treuer Beschützer, bis er 1938 als Sannyasi starb, nachdem auch er ein hohes spirituelles Bewusstsein erlangt hatte.
Nirmala Sundari Devi (das war der Name, den Ihre Eltern Ihr gegeben hatten) besuchte nur etwa zwei Jahre die Schule, sprach jedoch später mit präzisem Wissen über Gesetzmäßigkeiten des Lebens und der Natur sowie über Einzelheiten zu speziellen Fragen des Yoga-Weges und der Heiligen Schriften (Shastras), ohne sie jemals studiert oder einen spirituellen Lehrer gehabt zu haben.
„Auf Glück folgt zwangsläufig Trauer. Die Verwirklichung von Brahman ist ein Zustand jenseits von Freude und Trübsinn. Wenn ihr ein nasses Tongefäß von weitem seht, vermutet ihr, dass es mit Wasser gefüllt ist, weil ein mit Wasser gefüllter Tontopf im allgemeinen nass aussieht. – Ähnlich erwecken die Kenner Brahmans den Eindruck, von Freude durchdrungen zu sein. Aber das ist keine gewöhnliche Freude oder gewöhnliches Glück. Wie jener Zustand ist, kann mit Worten nicht beschrieben werden.“