ALTERNATIVE GESELLSCHAFTSENTWÜRFE:
Schweiz: Wohlgroth
Die Besetzung des Wohlgroth-Areals in Zürich war eine der grössten Hausbesetzungen in der Geschichte der Schweiz. Sie dauerte von Mai 1991 bis zur polizeilichen Räumung am 23. November 1993. In den fünf Gebäuden des Areals waren zahlreiche für die Öffentlichkeit zugängliche soziale und kulturelle Einrichtungen wie „Volxküche“, Notschlafstelle, Bibliothek oder auch ein Kino untergebracht. Zuletzt lebten rund 100 Bewohner in den Häusern des Areals.
Das weitläufige Industrieareal entwickelte sich durch seine Grösse und zentrale Lage schnell zu einem wichtigen Szene-Treffpunkt und zu einer der spektakulärsten Besetzungen der Schweizer Geschichte. Zum ersten Mal konnte mit Autonomie und Kollektivität in einem grösseren Rahmen experimentiert werden. Geprägt war das Zusammenleben in der Wohlgroth durch eine anarchistische Lebensführung, welche sich durch wenig Lohnarbeit, viel Freizeit und Selbstbestimmung auszeichnete – undogmatisch und ohne staatliche Aufsicht.
Die Wohlgroth stand gleichzeitig für den Rückzug der Häuserkampfbewegung auf ‘Inseln’; die Kämpfe der 68er-Bewegung für eine andere Gesellschaft und der 80er Bewegung für die Rückeroberung der ‘ganzen Stadt’ waren Vergangenheit. Hausbesetzungen verloren im Laufe der 80er und 90er Jahre zunehmend ihre Protestfunktion und wurden immer mehr zum reinen Selbstzweck: man besetzte, um eine Bleibe zu haben und dort selbstverwaltet zu leben.
Neben dem Wohnexperiment entwickelte sich die Wohlgroth zu einer ‘autonomen Kulturwerkstatt’ (AKW), die in ihrer Bedeutung mit dem AJZ Anfang der 1980er Jahre vergleichbar ist. Das kulturelle Programm setzte sich aus weit mehr als Punk- und Hardcoremusik zusammen; es reichte vom Jazz-Konzert bis zur Kunst-Ausstellung. Treffend bringt der von der Wohlgroth selbst geprägte Begriff ‘Kulturbrot’ das kulturelle Selbstverständnis auf den Punkt: Kultur galt als Nahrung für das tägliche Leben. Der kommerzielle Gedanke war dabei nebensächlich; die Innovation und das Experimentelle standen vielmehr im Mittelpunkt..

