
ALTERNATIVE GESELLSCHAFTSENTWÜRFE
Schweiz: Zaffaraya
Ein Kormoran, der im Biotopteich auf Beute hofft, Seerosen, Ruhebänke, Leute, die im Baumschatten lesen, picknicken oder einnicken: Das Berner Gaswerkareal ist ein Idyll. Das fanden junge Leute schon vor zwanzig Jahren – als sie begannen, hier das Hüttendorf Zaffaraya zu bauen. Der Hund hiess Carbouche und war eine Strassenmischung. Er lebte zusammen mit Hühnern, die um Indianerzelte herumgackerten. Und er ignorierte die beiden Schweine Egon und Piccolo, die aus der Küche herausgrunzten. Esther bereitete Kaffee zu. Und beruhigte: Carbouche sei friedlich, er beisse nicht. Das war im Herbst 1986, als sich die illegale Hüttensiedlung Zaffaraya auf dem Berner Gaswerkareal schon etabliert und erste gemeinderätliche Räumungsultimaten heil überstanden hatte. Einige Zaffarayaner waren auswärts an der Arbeit – als Helfer auf einem Bauernhof, als Chauffeur, als Mitarbeiter der Notschlafstelle, als Köchin. Einige werkelten an einem Holzpavillon, um ihn wintersicher zu machen. An einer Schnur hinter der Küche hängte jemand Wäsche auf. Zwischen den Zelten und Holzverschlägen gediehen Gemüse und Blumen, auffallend viele Sonnenblumen. Yves meinte, das Leben im Zaffaraya sei für ihn «ein Ausbruch aus der Isolation einer Zweizimmerwohnung ». Er schätze es, «in einem Kollektiv zu leben, das sich gemeinsam organisiert und gemeinsam trägt». Und Esther brachte nun den Kaffee.
Das war das alte Zaffaraya. Ein unordentliches und doch irgendwie geordnetes Slum-Idyll zwischen dem Berner Gaskessel und der Aare. Kein Klüngel von Leuten, die sich von der übrigen Welt abkapselten, wie Yves sagte: «Bloss der Ausdruck einer anderen Lebensweise. Ein Gegenstück zur sonst so geschniegelten Stadt.» Vor genau zwanzig Jahren war es, am 31. Juli 1985, als sich ein gutes Dutzend junger Leute im Gaswerkareal anschickte, diese neue Lebensweise zu leben: Mit dem Aufstellen von Zelten und Bretterhütten, mit dem Einrichten von Feuerstellen – um sich für vorläufig einige Tage hier einzunisten. Und für die «sonst so geschniegelte Stadt» war die Tragweite dieses Unterfangens vorerst noch nicht so recht abzuschätzen. Noch ahnte niemand, dass hier im Laufe der Zeit ein veritables Hüttendorf entstehen würde – und dass allein schon der zündende Name Zaffaraya, wie das neue «Freie Land» am Aareufer von seinen Bewohnerinnen und Bewohnern genannt wurde, später die Gemüter der Bernerinnen und Berner erhitzen würde. Und dass das alternative, aber halt eben illegale Wohn- und Lebensmodell, das hier entworfen wurde, von grosser gesellschaftspolitischer Brisanz war und später die ganze Stadt durcheinander bringen sollte.
Für die einen wurde Zaffaraya zum Synonym für Aufbruch – für das idealistische Streben junger Menschen nach einem anderen, einfacheren, vernünftigeren, umweltbewussteren, besseren, gerechteren und schlicht freieren Leben. Für die anderen – und vor allem auch für die bürgerliche Mehrheit im Gemeinderat, dem damaligen «Vierer mit» – wurde das Zaffaraya vom anfänglichen Ärgernis bald zur Zerreissprobe. Und nachdem die bürgerliche Gemeinderatsmehrheit das illegal errichtete Hüttendorf am 17. November 1987 mit Polizeigewalt räumen und in Schutt und Asche legen liess, wurde das Wort Zaffaraya in Bern vollends zum symbolhaften Reizwort: Viele applaudierten dem Gemeinderat dafür, «den Schandfleck endlich weggeputzt» zu haben, und viele andere demonstrierten in der Folge fast täglich in der Innenstadt fürs Zaffaraya – das auch für sie zum symbolträchtigen Zauberwort «für ein anderes Leben» geworden war. Sozialarbeiter und Mittelschüler streikten, und am 21. November 1987 zogen 10 000 Menschen durch die Stadt, um sich mit den zwei Dutzend Zaffarayanern zu solidarisieren.
Die Anfänge des Zaffarayas gingen auf die Jugendunruhen 1980–1982 zurück. Nachdem das Autonome Jugendzentrum (AJZ) in der Reitschule geschlossen worden war und dann jahrelang verriegelt blieb, hatten junge Leute «zaff, bum» (daher der Name) im Mai 1984 ein leer stehendes Haus an der Vilettenmattstrasse besetzt und daraus den alternativen kulturellen Treffpunkt «Zaff» gemacht. 14 Monate später, am 9. Juli 1985, wurde das Zaff-Haus geräumt und gleich abgebrochen. Und kurze Zeit später, am 31. Juli 1985, begannen die vertriebenen Autonomen auf dem Gaswerkareal eben, ihr eigenes Dorf aufzubauen – das zwar illegale, für sie aber «Freie Land Zaffaraya». Dieses «freie Land» gedieh in der Folge bestens. Es kam zwar vielen als Projektionsfläche für alle Untugenden des ach so aufmüpfigen Teils der Berner Jugend ganz kommod. Doch neben dem Tadel des «Establishments» erntete das «andere » Leben der Zaffarayanerinnen und Zaffarayaner auch weitherum Zustimmung und Lob.
Und schliesslich hat das Zaffaraya sogar die polizeiliche Räumung am 17. November 1987 überlebt. Übers alte Zaffaraya auf dem Gaswerkareal ist nun zwar Gras gewachsen, doch das neue Zaffaraya lebt beim Autobahnzubringer hinter dem Park+Ride Neufeld weiter – ohne dass es in der «sonst so geschniegelten Stadt» noch ein grosses Thema wäre. Esther und Yves sind zwar nicht mehr da. Auch nicht Hund Carbouche und die Schweine Egon und Piccolo. Doch noch immer findet man hier stets jemanden, der ganz gern ein Momentchen über Gott und die Welt und das Zaffaraya philosophiert. Und eine Tasse Tee oder Kaffee serviert.